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Gedanken zum Sonntag
am 21. Mai 2023   

 

 

 

 

 

 

Susanne Haag, Pfarrerin in Deufringen und Dachtel


Der prüfende Blick der alten Bekannten streift meine Hüfte und bleibt an meinen grauen Haaren hängen. „Wie kannst du dich so gehenlassen?“ sagt ihr Blick. Mein Blick bleibt an ihrem faltenfreien Gesicht und ihren dicken Lippen hängen. „Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?“ Denke ich. Wir beide sind irritiert über das, was wir sehen und denken

„du hast dich aber verändert.“

Wenn wir jemanden wiedertreffen oder kennenlernen, dann ist sein Äußeres das erste, was wir wahrnehmen. Unser Gehirn braucht sieben Sekunden, um zu entscheiden, ob uns gefällt, was wir sehen, ob wir den anderen Menschen sympathisch finden oder nicht.

Meine Bekannte hat sich ins Zeug gelegt, um ihren optischen Eindruck zu verbessern. Sie weiß: „der Mensch sieht, was vor Augen ist…“ (die Bibel, 1. Samuel 16,7). Sollte ich zügig nachziehen?

Bei einem Kaffee kommen wir ins Plaudern. Nach kurzer Zeit füllen sich die Augen meiner Bekannten mit Tränen: „die letzten Jahre waren eine einzige Katastrophe. Mein Ex ist mit einer Jüngeren auf und davon und unsere Scheidung war die reinste Schlammschlacht.“ Sie sitzt da wie ein Häuflein Elend, doch dann richtet sie sich auf, wischt sich trotzig die Tränen aus dem Gesicht und sagt: „der wird schon sehen, was er davon hat. Dank der kleinen OP werde ich mir mühelos einen Neuen angeln…“

„Und dann?“ Denke ich. „Schiebst du deinen Schmerz, dein verletztes Herz einfach weg, sorgst dafür, dass es niemand sieht – schon gar nicht dein Neuer?“ Klappt das: mein Äußeres verschönern, um mein Inneres zu kaschieren? Meine Bekannte will den Schmerz, den sie fühlt, nicht sichtbar mit sich herumtragen. Das verstehe ich. Ich öffne auch nicht jedem gleich mein Herz. Ich teile Sorgen oder Schmerz mit nahen Menschen, andere geht das nichts an.

Der Satz aus der Bibel fällt mir wieder ein. Erst im zweiten Teil kommt die Pointe: „… Gott aber sieht das Herz an.“ Ich atme durch: Da ist einer, der weiß, was los ist. Er versteht. Verurteilen ist nicht sein Ding. Meine grau werdenden Haare interessieren ihn nicht – er sieht, was in mir steckt, nämlich eine gute Zuhörerin, die die Bekannte in den Arm nimmt und einen alten Schlager von Glöckner und Kleiner aus der Kinderkirchzeit summt, in den die andere zaghaft einstimmt: „egal wie du aussiehst, egal wie du dich fühlst, Gott liebt dich. Er liebt dich, wenn du lächelst, er liebt dich, wenn du weinst…“ Schließlich atmen wir gemeinsam auf.